Gedankenstriche – Leichtathletik 2022: Rekorde aus der Schuhschachtel…

Die internationale Stadion-Leichtathletiksaison ist zu Ende gegangen – eine misteriöse Saison!

Seltsame Dinge ereigneten sich nämlich an den Leichtathletikweltmeisterschaften im amerikanischen Eugene, Oregon, und – in etwas abgeschwächtem Mass – auch an den Europameisterschaften in München: Die Welt-, Kontinental- und National-Rekorde sowie die persönlichen Bestleistungen der Teilnehmer/innen purzelten nur so daher, und das manchmal in Bereiche, die man kaum je wieder für möglich gehalten hätte.

Das neue Wundermittel heisst «Schuhschachtel»

Was das E-Bike für die Velofahrer sind neuerdings die Sportschuhe in der Leichtathletik – eine künstliche Hilfe zur Leistungssteigerung.

Angefangen hat alles vor etwa einem halben Dutzend Jahre, als in den Marathons und weiteren Läufen auf der Strasse vereinzelte Spitzenläufer/innen plötzlich Sprünge in ihren Bestleistungen machten, welche teilweise bis zu fünf Prozent der bisherigen Bestzeiten ausmachten. Allerdings gehörten nur die Läufer/innen zu den Begünstigten, welche vom Sportartikelhersteller Nr. 1, dem amerikanischen Konzern Nike, ausgerüstet wurden. Ein Blick auf dessen neuste Modelle zeigte sofort, dass im Bereich der Sohle mit neuen Elementen gearbeitet worden war; wobei eine Lösung gefunden wurde, welche einen Teil der eingesetzten Energie resorbierte und den Beinen über eine Schaumeinlage in der Sohle wieder zuführte. Weil während einigen Jahren nur die von Nike ausgerüsteten Sportler/innen davon profitierten, wurde natürlich die Fairness in der Leichtathletik wieder einmal mit Füssen getreten.

Die übrigen Laufschuhhersteller waren von der Entwicklung vollkommen überrumpelt worden, und so dauerte es mehrere Jahre, bis auch sie den Dreh ‘raushatten und ihren Akteuren die gleichen Vorteile zur Verfügung stellen konnten. Dabei zeigte sich schon an den Olympischen Spielen 2021 in Tokyo, dass nun neben den Laufschuhen für die Strasse auch die Schuhe für die Bahnläufer/innen mit der neuen Technik ausgestattet wurden, wobei eine Karbon-Platte in der Sohle für die nötige Stabilität sorgte, um die optimale Wirkung zu erzielen. Allerdings traten die Vorteile erst bei den diesjährigen Weltmeisterschaften in Eugene so richtig zutage, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der dort neu erstellten Laufbahn, welche ebenfalls noch einen Anteil an die Energie-Ersparnis lieferte.

Die «Schachtelhuber» von Eugene 
Die Schuhentwicklung war mittlerweile aber schon so weit gediehen, dass die Mischung und die Masse des verwendeten Schaums genau auf den Athleten oder die Athletin angepasst werden konnten. Zudem entwickelten nur ganz neue Schuhe die vollständige Wirkung, so dass in den ersten Tagen der WM das auffallendste Merkmal im Athletendorf war, dass sich die Athletinnen und Athleten permanent mit zum Teil mehreren Schuhschachteln unter dem Arm im Dorf herum bewegten…

Selbstverständlich waren die Schuhfirmen bestrebt, auch werbetechnisch optimal zu profitieren, so dass sie die Farbe der Schuhe je nach Modell änderten und ihre Exponenten anhielten, dass sie immer das Modell mit der neusten Farbe trugen. Die Pointe dabei war dann, dass z.B. Simon Ehammer, der sich nicht mit dem weichen Schaum am Fuss anfreunden konnte und mit seinen alten gelben Schuhen angereist war, von seinem Ausrüster mit einem alten Modell, aber in den neuen, orangen Farben beliefert wurde. Die Zuschauer wollen ja schliesslich für dumm verkauft werden…

Die «chemischen» durch mechanische Vorteile ersetzt 
Dass die Weltrekordzeiten aus der Hohezeit des Dopings, Ende der 1980er Jahre, welche in gewissen Laufdisziplinen für ewig unerreichbar gehalten worden waren, jetzt wieder im Bereich des Möglichen erscheinen, zeigt, dass die damals auf chemischem Weg erreichten Vorteile heute durch die neuen, mechanischen Verbesserung der Laufschuhe ausgeglichen worden sind. Das mag Leichtathletik-Puristen zwar auch nicht eben zu befriedigen, aber immerhin steht damit die Gesundheit der Athletinnen und Athleten nicht mehr auf dem Spiel. 
Zumindest so viel man heute weiss.

In jedem Fall hat sich der Internationale Leichtathletikverband IAAF wieder einmal von der Wirtschaft überraschen lassen und es verpasst, rechtzeitig Richtlinien für die Forschung zu setzen, um damit der ungehemmten Verbreitung von künstlicher Leistungssteigerung Grenzen zu setzen. Das war auch schon anders! Als nämlich in den 1960er Jahren im Hochsprung plötzlich Hochsprungschuhe mit verdickter Sohle und Katapultwirkung auftauchten, da wurden diese Schuhe sofort verboten, und es wurde ein genaues Reglement für die Beschaffung der Sohlen erstellt. Aber der internationale Verband tut sich ja schon seit langem schwer, Auswüchse in verschiedenen Bereichen wirksam zu bekämpfen und zu reglementieren, denn logisches Denken und Voraussicht gehörten in den letzten Jahren nicht zu den Stärken der IAAF.

Die Fairness wird auch in anderer Hinsicht torpediert 
Die neuen Laufschuhe, gekoppelt mit den immer schneller werdenden Laufbahnen in den Stadien, haben auf der Rundbahn in den Läufen von 200m bis 400m Hürden verheerende Folgen. Die Läufer/innen sind zu schnell geworden, so dass nicht mehr alle Startenden in einem Lauf die gleichen Chancen haben. Die Bahn 1 zum Beispiel ist schon tot! Wer bei Meisterschaften auf diese Bahn eingeteilt wird, hat schon verloren. Der Kurvenradius ist zu klein für die heute möglichen Tempi, und man kann dort gar nicht die volle Leistung bringen. Empirische Beobachtungen bei den Welt- und Europameisterschaften in diesem Jahr haben für mich ergeben, dass der Zeitverlust gegenüber Läufen auf den Bahnen 3 bis 8 pro Kurve etwa zwei bis drei Zehntelsekunden ausmacht, und dies, ohne auch noch den psychischen Effekt, auf einer «verlorenen» Bahn starten zu müssen, mit einzubeziehen. Über 400m ist man also auf der Innenbahn rund eine halbe Sekunde langsamer, nur wegen der physikalischen Gegebenheiten mit der zu starken Fliehkraft in den Kurven.

Gerade die Schweizerinnen können von diesem Umstand ein trauriges Lied singen, auch wenn sie zum Teil selber schuld daran waren, auf diese Bahn 1 verdammt worden zu sein. Mujinga Kambundschi vertrödelte bei den Weltmeisterschaften im Halbfinal die durchaus mögliche direkte Finalqualifikation auf den letzten Metern um eine Hundertstelsekunde und qualifizierte sich nur noch als zweite «Lucky Loserin» auf Grund der gelaufenen Zeit. Damit fing sie sich aber nach den neuen Reglementen die Bahn 1 für den Final ein und war dort entsprechend chancenlos. Anstatt einer mit etwas Glück durchaus möglichen Medaille blieb nur der 8. und damit letzte Rang mit einer Zeit, die um eine halbe Sekunde hinter ihrer eigenen Bestzeit lag.

Nichts gemerkt und nichts gelernt 
Noch schlimmer erging es dem Paradepferd der Schweizer Frauenleichtathletik, der 4x100m-Staffel, die an der WM im Vorlauf ohne die geschonte Mujinga Kambundschi auf der guten Bahn 7 läuferisch und wechseltechnisch nicht überzeugen konnte und sich zwar für den Final qualifizierte, aber ebenfalls nur als 8. Team. Damit war die Strafaufgabe mit Bahn 1 auch schon wieder Tatsache. Und jetzt passierte etwas, was eigentlich hätte vermieden werden müssen. Läuferisch und wechselmässig gelangen die ersten drei Strecken im Final durchaus zufriedenstellend, so dass die Schlussläuferin eigentlich hätte um die so sehr erhoffte Medaille mitlaufen können. Aber es hatte der Schlussläuferin offensichtlich niemand gesagt, dass die Kurvenläuferin auf der Bahn 1 etwa zwei bis drei Zehntel langsamer sei, als üblich, und als die Schlussläuferin bei der normalen Wechselmarke loslief, sprintete ihre Kollegin nicht wie erwartet, rechtzeitig mit dem Stab heran. Also Tempo drosseln, Blick zurück, fast ein Stopp und Übernahme des Stabs knapp vor der Wechselmarke, ohne jeden Schwung, und damit waren alle Chancen vertan. Die Deutschen Frauen gewannen die Broncemedaille in einer Zeit im Bereich des Schweizer Rekords, die Schweizerinnen wurden acht Zehntelsekunden dahinter siebente. Die einzige Hoffnung lag nun auf den nur wenig später stattfindenden Europameisterschaften, wo auf Grund der bisherigen Saison-Resultate eine Medaille schon fast zum Abholen bereit lag.

Im Vorlauf musste wieder Kambundschi ersetzt werden, die am gleichen Tag ihren Final über 200m laufen durfte. Der Trainer hatte die Reihenfolge der Läuferinnen gegenüber dem WM-Team geändert, und die Ersatzläuferin für Kambundschi wurde auf der Schlussstrecke eingesetzt. Lange Gesichter gab es dann, als die Bahnverteilung des zweiten Vorlaufs bekannt wurde: die Schweizerinnen waren auf die Bahn 1 ausgelost worden… Pech, aber trotzdem: ein wohl nötiger vierter Rang für die Finalteilnahme war Pflicht. Der Rest ist die Wiederholung der Geschichte vom WM-Final, nur mit anderen Namen. Der dritte Wechsel nach der zweiten Kurve war eine reine Kopie des WM-Wechsels. Man hatte offensichtlich nichts gelernt, so dass die Schlussläuferin wieder zu früh loslief. Katastrophenwechsel und keine Chance mehr, den rettenden vierten Platz noch zu erreichen. Die Schweizerinnen waren im Vorlauf ausgeschieden! Das Staffel-Team konnte von Glück reden, dass am Abend Kambundschis Goldmedaille im 200m Lauf den Flop vom Vormittag wenigstens kurzzeitig vergessen machte; ebenso die unerwarteten Finalqualifikationen der viel weniger hoch eingestuften Sprintstaffel der Männer und jene über 4x400m der Frauen.

Kurz und schnurz…
Die Lehre aus den Schweizer Mini-Dramen bei WM und EM: Hände, respektive Füsse weg von Bahn 1 in den Läufen mit einer oder zwei Kurven. Diese Bahn ist toxisch! Dort sind die schnellen Schuhe und die Rekord-Beläge alles andere als hilfreich. Dort hätte nicht einmal ein Usain Bolt Rekorde aufgestellt…

Die Frage stellt sich übrigens ernsthaft: Es gibt in vielen Stadien schon heute 9 Bahnen. Wieso werden eigentlich die inkriminierten Läufe dort nicht auf den Bahnen 2 bis 9 gelaufen. Die Bahn 2 ist zwar auch noch nicht optimal, hat aber immerhin einen um eine Meter grösseren Radius.
Oder sollten eher die schnellen Schuhe und rekordträchtigen Laufbeläge wieder verboten werden?
Aber wer will schon einen Fairnesspreis gewinnen…

Peter Tobler

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