Vorgeschichte mit anrüchigem Beigeschmack
Schon die Vergabe der Weltmeisterschaften an Eugene im Jahr 2015 fiel total aus dem Rahmen, denn er damalige IAAF-Präsident Lamine Diack hatte diese Weltmeisterschaften «freihändig», d.h. ohne Ausschreibung, an den Heimatort des amerikanischen Sportartikel-Giganten Nike vergeben, mit der Begründung, man wolle endlich einmal Leichtathletikweltmeisterschaften in den USA, um damit dort das (werbewirksame) Publikumsinteresse an dieser Sportart anzukurbeln. Den Effekt zu erleben schaffte Diack nicht mehr, denn er wurde 2017 aller seiner Ämter bei der IAAF und im IOC enthoben und 2019 wegen Korruption und Vertuschung von Dopingvergehen von russischen Leichtathletinnen und -athleten von einem französischen Gericht zu vier Jahren Haft verurteilt. Er starb im vergangenen Dezember im Hausarrest in Paris. Sein Nachfolger wurde Vizepräsident Sebastian Coe, der allen Ernstes behauptet hatte, er hätte von den jahrelangen Vergehen seines «Chefs» nicht bemerkt…
Ein neues Stadion erweist sich als Flop
Nike, und speziell sein Gründer Phil Knight wollten die Chance nützen, die ihnen geboten wurde, und eine Weltmeisterschaft der Superlative kreieren. Dazu brauchte es natürlich ein neues Stadion, welches das bisherige «Heiligtum» Hayward Field, seit 100 Jahren die Sportanlage der University of Oregon, an gleicher Stelle ersetzte. Und tatsächlich wurde das von Knight und weiteren Privatleuten gesponserte, 270 Mio $ teure Bauwerk ein wahrhaftiges Bijou, welches ausschliesslich für die Leichtathletik konzipiert wurde. Die Wettkampf-Anlagen waren deshalb absolut top und die Architektur der Tribünenanlage herrlich anzusehen. Es kam wirklich Vorfreude auf, dort die Weltbesten der Leichtathletik am Werk zu sehen.
Allerdings dauerte es nur knapp zwei Tage, bis man feststellen musste, dass da bei der Planung und beim Bau etwas schiefgelaufen sein musste. Für das grosse Publikum und offenbar auch für den Verband war das allerdings kaum zu sehen, höchstens zu spüren. Man musste schon den Windmesser zu Hilfe nehmen, und der bewies absolut Ungeheuerliches. Der Wind wehte, wie er gerade wollte, und von welcher Seite er wollte. Innert Minuten konnte er seine Richtung um 180° drehen, so dass der erste Vorlauf fast drei Meter Rückenwind hatte, während im darauffolgenden Lauf schon wieder ein Gegenwind von einem Meter wehte. Das galt auch bei den Weit- und Dreisprüngen und den langen Würfen Diskus und Speer, wo die Verhältnisse von Konkurrent zu Konkurrentin änderten und absolut keine fairen Wettbewerbe garantierten, denn wenn etwas in einem Leichtathletik-Stadion ein absolutes «No-go» ist, dann sind es unstabile Windverhältnisse.
Man weiss allerdings schon seit den 1980er Jahren, dass gerade futuristische Tribünendächer sehr oft für unregelmässige Windwirbel sorgen, und dass bei der Planung von allem Anfang an der Thermik grösste Beachtung geschenkt werden muss.
Reaktion der Verantwortlichen – Augen zu!
Offensichtlich haben die verantwortlichen des Verbands und der Organisatoren diesen Riesen-Flop im Vorfeld der WM trotzdem schon bemerkt, denn die US-Meisterschaften fanden ja einige Wochen vorher als Hauptprobe ebenfalls im Hayward Field statt. Da man das Stadion aber schlecht nochmals umbauen konnte, setzte man ganz einfach aufs Verstecken und Vertuschen. Die Windmessung wurde sozusagen negiert. Bei den kurzen Läufen wurde jeweils die Windstärke im Fernsehen während ganzen sieben Sekunden über der Laufzeit des Siegers eingeblendet, zu einem Zeitpunkt, in dem die ersten Reaktionen der Läufer zu sehen waren.
Ich hab’s noch und noch versucht, aber höchsten in einem von fünf Fällen auch geschafft, die Windmessung im Liveprogramm zu ermitteln. Und danach war Ende, denn wo früher in jeder Rangliste die Windmessung aufgeführt war, herrschte in Eugene Ebbe. Auch in den auf dem Internet live zugänglichen Ranglisten fehlte die Windangabe, und man musste schon eine altertümliche Form der Rangliste herunterladen, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Bei den Sprüngen wurde der Wind auf dem TV-Schirm überhaupt nicht eingeblendet – er fand schlicht nicht statt! Die Kommentatoren kümmerten sich in der Mehrzahl der Fälle ebenfalls nicht um den Wind. Sie wunderten sich höchstens darüber, dass aus dem einen Halbfinal gleich vier Läuferinnen den Final erreichten, aus den anderen beiden nur die beiden Besten und damit fix Qualifizierten. 2.9 m/sec Rückenwind im einen Halbfinal, 0.3 und 0.4 m/sec. Gegenwind in den beiden anderen Läufen – rechne…!
Selbst beim zweiten Weltrekord über 100m Hürden merkten die Kommentatoren erst nach etwa einer Minute, dass der Rekord wegen zu viel Wind nicht gültig sein würde. Die Sieben-Sekunden-Einblendung des Windes hatte sie halt nicht interessiert.
Schweizer Leistungen von Top bis Flop
Dass bei einer Schweizer-Delegation von fast dreissig Athletinnen und Athleten die Leistungen deutlich auseinanderklaffen können, das verwundert nicht. Solche Diskrepanzen gab es schon immer. Erfreulich ist, dass diesmal die positiven Gefühle beim Beobachter deutlich überwiegen, nicht nur wegen der ersten Schweizer WM-Medaille seit 2006 durch den Weispringer Simon Ehammer. Dieser Erfolg, der schon am zweiten Wettkampftag gelang, nahm der übrigen Delegation so etwas wie den Druck von den Schultern, so dass die angestrebten Resultate ziemlich regelmässig erreicht wurden. Und sogar dort, wo ein Überstehen der ersten Runde nicht gelang, lagen die Wettkämpfer/innen fast ausnahmslos im Bereich ihrer persönlichen Bestleistung, manchmal sogar darüber. Als richtige Flops boten sich nur die eigentlich hoch gehandelten Hochspringer Loïc Gasch und der Hürdensprinter Jason Joseph an, welche Qualifikation, resp. im Halbfinal sang und klanglos und weit von ihren Bestleistungen entfernt, ausschieden.
Man durfte aber erfreut feststellen, dass die Schweizer Leichtathletik auch auf Weltmeisterschafts-Ebene wieder von sich reden macht.
Dabei stand diesmal das Glück in knappen Entscheidungen praktisch durchs Band weg auf Seiten der Schweizerinnen und war von ihnen gar nicht zu beeinflussen. Wenn sich die Stabspringerin Angelika Moser eigentlich schon auf dem Heimweg in die Schweiz sah und dann doch noch die Finalqualifikation erreichte, weil an der Spitze eine Springerin zu wenig die Qualifikationshöhe schaffte, so dass sie nachrutschte, war das pures Glück. Klasse war dann allerdings, dass sie sich in diesem Final markant steigerte und 8. wurde.
Das gleiche galt für die Hürdensprinterin Ditaji Kambundschi, die im Vorlauf mit für sie schwachen 13.12 nur eine Tausendstels-Sekunde besser war als zwei andere Konkurrentinnen im Kampf um den Halbfinaleinzug, und dies auch wegen deutlich stärkerer Windunterstützung. Im Halbfinal verbesserte sie sich dann aber um fast eine halbe Sekunde auf eine persönliche Bestzeit von auch international wertvollen 12.70.
Glück hatte auch ihre Schwester Mujinga, der im Halbfinal bei ihrem neuen Schweizerrekord genau die noch erlaubten 2.0 m/sec. Wind in den Rücken bliesen. Trotzdem reichte es nur zur Qualifikation über die Zeit, womit sie für den Final die unbeliebte Bahn 1 zugeteilt erhielt, auf der sie absolut chancenlos blieb und mit einer enttäuschenden Zeit nur Achte wurde.
Statt Staffelmedaille ein Riesen-Flop
Seit dem grossartigen 4. Rang der Frauen-Sprintstaffel an den Olympischen Spielen in Tokio war in der Schweizer Leichtathletik-Szene nur noch von einer möglichen Staffelmedaille auf Weltmeisterschaftsebene die Rede, und als wenige Wochen vor der WM beim Diamondmeeting von Stockholm ein Sieg in einer Top-Zeit herausschaute, stiegen die Erwartungen fast ins Grenzenlose. Dass es dann nicht so weit kam, war schliesslich eine Folge von Fehlleistungen die fast alle selbstverschuldet waren.
Es begann mit der Ankündigung, dass in der Qualifikation das Team auf die stärkste Sprinterin verzichten werde, um Mujinga Kambundschi einen Ruhetag zu gewähren. Das war nach dem Mammutprogramm der Bernerin über 100 und 200 Meter zwar eine legitime und auch weise Entscheidung, aber geradezu stümperhaft war, wie dieser Umstand «verkauft» wurde. Es wurde nämlich die Formulierung benützt, dass man nun im Kreis der «Grossen» angekommen sei und sich eine solche Auswechslung durchaus ebenfalls erlauben könne, ohne die Finalqualifikation zu gefährden. Das ist zwar eine intern durchaus vertretbare Meinung, die aber so nicht an die Öffentlichkeit gehört, weil sie automatisch nach Selbstüberschätzung riecht. Damit gab man nicht zuletzt den Athletinnen zu verstehen, dass erst der Final eine richtige Herausforderung sein würde.
So kam es denn mit der Schweizer Staffel, wie es kommen musste! In der Qualifikation scheuten die vier Läuferinnen jedes Risiko, trieben die «Sicherheitswechsel» auf die Spitze und boten auch läuferisch nur gerade Normalkost. Resultat: nur der 5 Rang, 5 Hundertstel hinter dem angestrebten 3. Platz. Damit sicherte man sich zwar mit einer Marge von zwei Zehnteln noch die Finalqualifikation, aber eben, nur als Nummer acht, und damit war die Bahn 1 im Final vorgegeben.
Damit war aber auch schon klar, dass es mit der angestrebten Medaille nichts werden würde, und dieses Wissen färbte sich gleich nochmals auf die Leistungen der Läuferinnen ab. Die Wechsel waren deutlich schwächer als normal und der Wechsel zur Schlussläuferin eine totale Katastrophe. Der damit erreichte siebte Rang verbreitete natürlich totalen Frust, auch wenn Trainer und Läuferinnen dies noch zu übertünchen versuchten und mit dem Hinweis auf die kommenden Europameisterschaften bereits wieder Optimismus versprühten.
Bei der Aufarbeitung dieser selbst verursachten Schlappe wird man dann hoffentlich auch wieder auf die Idee kommen, dass Mujinga Kambudschi, als eine der zwei oder drei weltbesten Kurvenläuferinnen, an die dritte Ablösung gehört und nicht auf die Gegengerade, denn die Staffelrennen werden meistens in der Kurve zwischen 200 und 300m entschieden. Und dann brauchtes noch eine topfitte Schlussläuferin, die den Vorsprung ins Ziel laufen kann. Wenn das alles klappt, dann ist berechtigter Optimismus durchaus wieder am Platz.
Wenn diese ersten Weltmeisterschaften in den USA, welche übrigens den angestrebten Publikumserfolg nie erreichten, für die Schweizer Delegation zu einer wichtigen Standortbestimmung werden, wo die Erfolge verinnerlicht und aus den Flops die Lehren gezogen werden, dann darf man sich auf die Europameister-schaften Mitte August in München freuen. Man soll durchaus berechtigtes Selbstvertrauen demonstrieren – auf dem Wettkampfplatz und nicht in den Medienmitteilungen…
Peter Tobler
(Nächstens folgt eine weitere Leichtathletik-Betrachtung unter dem Titel:
«Leichtathletik-Rekorde aus der Schuhschachtel»)