Der Wind, der Wind…
Es gibt kaum ein Element, das so widersprüchliche Gefühle auslöst, wie der Wind, und dessen Einfluss auf gewisse Sportarten trotzdem kaum diskutiert wird.
Während bei den Windsurfern, Seglern, Segelfliegern, Ballonfahrern und Deltaseglern der Wind eine wichtige Hilfe und Voraussetzung für das Betreiben dieser Sportarten ist und darum kaum je stark genug blasen kann, wirkt er sich in vielen anderen Sportarten sehr unterschiedlich aus, je nach dem, aus welcher Richtung er bläst. Bei allen Schiesswettbewerben im Freien, wird der Wind in jeder Form verdammt, und die Auswirkungen, gerade von Seitenwind, hat sich in den letzten Jahren im immer beliebter werdenden TV-Sport Biathlon, auf breiter Front gezeigt. Im Skifahren, Langlaufen, Radfahren und Joggen wird der Wind geschätzt, wenn er von hinten in den Rücken bläst und aufs heftigste verflucht, wenn er als Gegenwind ins Gesicht bläst und dabei einen zusätzlichen Kraftaufwand verlangt. Da ist der Windschatten im Rücken der Konkurrenz ein sehr gesuchter Ort, um möglichst lange Kräfte zu sparen. Im Gegensatz dazu wird der Rückenwind bei den Skispringern ganz und gar nicht geschätzt. Dort hat man ihn am liebsten als Aufwind im Bereich des Schanzenhügels, und als Seitenwind war er schon verantwortlich für ziemlich böse Stürze. Deshalb hat man in dieser Sportart den Wind bis ins letzte Detail untersucht und in die Bewertung der Sprünge einbezogen. Seit es die elektronischen Windmesser und die verarbeitenden Computer gibt, ist hier so etwas wie die Sichtbarkeit des Windes eingekehrt und auch bei den Kommentatoren ein ständiges Thema.
Von solchen Zuständen kann die Leichtathletik nur träumen, denn ausgerechnet in jener Sportart, welche aufgrund der fixierten Distanzen auf normierten Anlagen und mit bis zu Tausendstels-Sekunden oder Millimetern gemessenen Leistungen geeignet ist für weltweite Vergleiche und Rekordlisten, spielt der Wind kaum je die Rolle, die ihm eigentlich zukommt.
Man hat zwar schon in grauer Vorzeit den Unterschied zwischen Gegen- und Rückenwind erkannt und für Rekordleistungen auf Strecken, die im Stadion nur in einer Richtung gelaufen werden, einen Unterstützungs-Höchstwert festgelegt, bis zu welchem Rekorde anerkannt werden. So steht ein Windmesser an der Innenkante der Laufbahn bei 50m für die 100 und 200m-Sprints und die kurzen Hürdenstrecken, oder in der Mitte des Anlaufs bei den Flachsprüngen (Weit- und Dreisprung). Das Gerät misst dort aber nur die Komponente des Windes, welche genau in der Laufrichtung weht. Früher tat man dies mit einem etwa 50cm langen Windkanal um das Messgerät herum. Heute wird per Computer der entsprechende Vektor der insgesamt gemessenen Windstärke ermittelt. Beim 200m-Lauf wird nur jene Zeit berechnet, auf der die Sprinter auf der Zielgerade laufen. Das kann dann schon einmal zu überraschenden Resultaten führen.
Ich erinnere mich an einen 200m-Lauf von Peter Muster im Jahr 1976, als er in Zofingen auf der Bahn 8 fast im Scheitelpunkt der Kurve startete und für die ersten 100m die volle Unterstützung des schräg über den Platz fegenden Windes erhielt und auf den gemessenen 100m Metern auf der Zielgerade immer noch rund die Hälfte der Windunterstützung bezog. Weil im Windmesskanal aber nur die halbe Windgeschwindigkeit angezeigt wurde, welche parallel zur Laufrichtung blies, konnte bei einem gerade noch zulässigen Rückenwind eine sensationelle Verbesserung des Schweizerrekords um fast drei Zehntelsekunden registriert werden. Alles ganz legal!
Auch beim «Weltrekordsprung für die Ewigkeit» im Weitsprung an den Olympischen Spielen 1968 in Mexico-City blieb immer ein schaler Geschmack zurück, weil laut den Berichten der anwesenden Journalisten während dem Sprung von Bob Beamon auf sagenhafte 8.91m, der Wind den Kampfrichtern fast die Hüte vom Kopf gefegt hätte. Trotzdem wurde gerade noch die Windstärke von erlaubten 2.0 m/sec Rückenwind bekannt gegeben. Der am Messgerät stehende Kampfrichter hatte offensichtlich vor lauter Begeisterung über den Riesensatz vergessen, das Gerät korrekt zu bedienen…
So sorgte denn der Wind in der Leichtathletik immer wieder mal wieder für Gesprächsstoff, aber weil ja in den einzelnen Rennen die direkt gegeneinander laufende Konkurrenz stets die gleichen Bedingungen hatte, erübrigten sich grosse Diskussionen. Durch die immer komplizierter werdenden Stadiondach-Konstruktionen stimmt sogar nicht einmal mehr diese Theorie, denn ich bin schon in Stadien auf der Laufbahn gestanden, in denen auf der Innenbahn der Wind als Rückenwind gemessen wurde, während die Luftwirbel von der Dachkonstruktion her dafür sorgten, dass auf der Aussenbahn zum gleichen Zeitpunkt Gegenwind herrschte. Natürlich unbemerkt, denn den Wind sieht man ja nicht…
Im Laufe der Zeit hat sich allerdings der Erfahrungswert durchgesetzt, dass pro 1 m/sec Wind ein Vor- oder Nachteil von einer Zehntelsekunde auf das Laufresultat herausschaut. Das heisst, ob jemand von einer gerade noch zulässigen Windunterstützung von 2.0 m/sec profitiert oder in einen Gegenwind von der gleichen Stärke hineinläuft, ergibt das bei einer absolut gleichwertigen Leistung einen Unterschied von 0,4 Sekunden. Es ist deshalb absolut unverständlich, wenn bei den Analysen von Resultaten, sowohl in den Livesendungen am Fernsehen als auch in den Nachbetrachtungen der Presse die Windsituation einfach verschwiegen wird. Ich ärgere mich immer wieder masslos, wenn von einem enttäuschenden Resultat einer Läuferin gesprochen wird, die über 100m 11,35 Sekunden benötigte (bei einem Gegenwind von 1.5 m/sec), wo sie doch früher schon einmal in 11,15 gestoppt worden war (damals mit Rückenwind von 1.2 m/sec) – Rechne!
Dass die Regisseure bei den TV-Übertragungen dem Wind ebenfalls keine Bedeutung zumessen, zeigt sich an der Tatsache, dass in letzter Zeit die Windangabe kaum mehr zu erkennen ist, denn sie erscheint immer nur noch zusammen mit der gestoppten Siegerzeit für wenige Sekunden auf dem Bildschirm, zusammen mit weiteren Ablenkungsmotiven wie dem Logo des Zeitmessers. Und weil die Kommentatoren den Wind auch nur äusserst selten erwähnen, fühlt man sich als Leichtathletik-Konsument ziemlich allein gelassen.
Der ganz grosse Ärger über die «Windverleugnung» kommt aber immer erst dann auf, wenn sie von den Verbänden sozisagen offizialisiert wird. Dann nämlich, wenn verschiedene Laufserien miteinander verglichen werden. Dies ist der Fall, wenn bei Meisterschaften in den kurzen Sprints in den drei «Halbfinals» (an sich schon ein Unsinn) die zwei besten Zeiten aller Ausgeschiedenen noch für die Final-Qualifikation gesucht werden. Da ergeben sich regelmässig Ungerechtigkeiten zuhauf, wenn die Serien mit unterschiedlichen Windverhältnissen einander gleichwertig gegenübergestellt werden. In diesen speziellen Fällen (und nur dort) müsste ein System zum gerechten Ermitteln der richtigen Finalisten eingesetzt werden, welche die Parameter der Windunterstützung berücksichtigt. Die Skispringer machen es ja vor, dass das möglich ist. Wir hätten in den letzten Jahren bei Welt- und Europameisterschaften schon einige zusätzliche Schweizer Finalistinnen und Finalisten gehabt…
Aber Gerechtigkeit ist ja nicht das oberste Gebot bei den internationalen Verbänden, und da die Medien beim Suchen von Zusammenhängen meist überfordert sind, droht von dort auch kein «Shitstorm»! Weil man den Wind nicht sieht, sondern nur spürt, ist er im Fernsehen auch nicht präsent. Und was im Fernsehen nicht präsent ist, gibt es auch nicht! Der Wind hat keine Lobby. So einfach ist das…
Peter Tobler