Rückspiegel: Olympische Spiele in Tokyo 1964 mit TVU-Beteiligung

Während den Olympischen Spielen in diesem Sommer wurde immer wieder auf die Spiele von 1964, ebenfalls in Tokyo, verwiesen, damals mit doppelter TVU-Präsenz.

Olympia zum zweiten Mal in Tokyo

Die Olympischen Spiele hätten 2020 zum zweiten Mal in Japans Hauptstadt Tokyo stattfinden sollen, konnten aber erst mit einem Jahr Verspätung auch wirklich durchgeführt werden.
Dabei wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass 57 Jahre zuvor die Olympischen Spiele schon einmal in Tokyo stattgefunden hatten, und zwar so spät im Jahr wie noch nie, nämlich vom 12. bis 24. Oktober 1964. Und im TVU durfte man stolz darauf hinweisen, dass auch bei jenen Spielen unser Verein mit zwei Leichtathleten vertreten war und damit eine gute Tradition fortsetzte.
Das ist Grund genug für einen Blick in den Rückspiegel!

Olympische Spiele in Tokyo 1964 mit TVU-Beteiligung
Es waren die ersten Olympischen Spiele, die in Asien durchgeführt wurden. Dabei war Tokyo schon für 1940 als Austragungsort der Olympischen Spiele vorgesehen, die dann allerdings dem zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. Dementsprechend setzte Japan auch alle Hebel in Bewegung, um der Welt zu beweisen, dass es sich vom zweiten Weltkriegsdebakel erholt hatte und auf dem Weg dazu war, seinen wirtschaftlichen und technologischen Rückstand auf die westliche Welt zu verkleinern. In den fünf Jahren seit 1959, als Tokyo den Zuschlag für die „Olympics“ erhalten hatte, modernisierte man die japanische Hauptstadt in einem atemberaubenden Tempo. Das führte dazu, dass Japaner, die einige Zeit im Ausland gelebt hatten, ihre Metropole fast nicht wieder erkannten. Die Wolkenkratzer waren nur so in die Höhe geschossen, und die olympischen Sportanlagen mussten natürlich absolut perfekt gebaut werden. Im Gegensatz zu heute stand die japanische Bevölkerung 1964 mit grosser Euphorie hinter ihren „Games“, und die Wettkämpfe waren alle schon in kurzer Zeit ausverkauft, und das trotz sehr hohen Eintrittspreisen. Man überliess dabei auch gar nichts dem Zufall. Die Eröffnungs- und Schlussfeiern wurden mehrfach im Massstab 1:1 geprobt, mit tausenden von Schulkindern als Platzhalter für die rund 6000 erwarteten Athletinnen und Athleten. Organisatorisch war alles rechtzeitig bereit, nur das Wetter spielte mitunter nicht so richtig mit. Man war der japanischen Sommerhitze durch die Verlegung in den Herbst entkommen, traf dafür aber auf teilweise ausgiebig regnerisches Wetter, welches vor allem die Leichtathletik-Wettkämpfe ziemlich arg beeinträchtigte. Tokyo waren nämlich die letzten Olympischen Spiele, die noch auf den bis dahin üblichen sandigen Rotgrund-Anlagen durchgeführt wurden, wo das Wasser meist einige Zeit liegen blieb und den Boden total aufweichte. Ab 1968 in Mexiko waren dann die Stadien mit Kunststoffanlagen ausgerüstet.

Der Schweizer „Fast-Olympiasieger“, der schliesslich Fünfter wurde…

Eine völlig durchnässte Anlaufbahn gab im Speerwerfen der Männer zu reden. Am Vormittag, beim Qualifikationswettkampf scheiterten die Favoriten allesamt beim Versuch, den Speer über die Limite von 77m zu werfen. Der einzige, dem die Verhältnisse nichts ausmachten, war der Schweizer Rekordhalter Urs von Wartburg, der die „Lanze“ zwei Mal auf fast 80m schleuderte und damit als einziger Werfer direkt qualifiziert war. Des Rätsels Lösung: von Wartburg war ein Werfer mit einem unheimlich starken Armzug, der seine Würfe auch ohne einen schnellen Anlauf ausführen konnte. Beim Sumpf auf der Anlaufbahn war er deshalb kaum benachteiligt. Am Abend dann, bei wieder trockenem Wetter, kamen die Favoriten, welche sich gemäss ihren erzielten Weiten auch noch zu qualifizieren vermochten, dann wieder auf ihre üblichen Resultate, so dass sich von Wartburg schliesslich mit dem immer noch sensationellen fünften Rang begnügen musste. In Schweizer Leichtathletikkreisen hielt sich danach aber scherzhaft noch jahrelang die Theorie, der Schweizermeister hätte eigentlich Olympiasieger werden müssen, da sich ja nur er korrekt für den Final qualifiziert hatte. Alle übrigen hätten eigentlich nur noch um Platz zwei kämpfen dürfen…

Schweizer Sommer-Medaillen nach dem „Nuller“ im Winter
Nachdem die Schweizer Delegation bei den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck enttäuschte und ohne Medaillen nachhause kam, gelang jener an den Sommerspielen eine gewisse Rehabilitierung. Das Team mit 66 Athletinnen und Athleten aus 13 Sportarten erkämpfte sich in Tokyo 1 Goldmedaille (Henry Chamartin, Dressurreiten), 2 Silbermedaillen (Equipe im Dressurreiten, Eric Hänni, Judo) und 1 Broncemedaille (Göpf Kottmann, Rudern). Damit konnten die vielen Verbandsfunktionäre in der Delegation einigermassen leben. Viele von ihnen waren „ehrenhalber“ dabei, während wichtige Betreuer aus Mangel an Plätzen daheimbleiben mussten. Das Bild vom Einmarsch der Schweizer/innen bei der Eröffnungsfeier hält die Verhältnisse fest: Hinter dem Fahnenträger Peter Laeng folgten erst einmal sechs Reihen Funktionäre, bevor dann die Aktiven an der Reihe waren…

Einmarsch der Schweizer Delegation bei der Eröffnungsfeier 1964 in Tokyo

1964 war es noch Brauch, dass die gesamte Schweizer Delegation sowohl Hin- als auch Rückreise gemeinsam absolvierte, was den einzelnen Aktiven während den fast drei Wochen die Gelegenheit bot, sich auch bei anderen Sportarten umzusehen, oder Tokyo und die nähere Umgebung während der Freizeit zu erkunden. Dabei hatten natürlich vor allem jene Teilnehmer Glück, welche ihre Wettkämpfe am Anfang der Spiele bestritten, wohingegen zum Beispiel die Leichtathletik stets in der zweiten Hälfte des Olympiaprogramms ausgetragen wird. In Sachen Technik und Komfort vermochte Tokyo damals an vielen Orten  neue Standards zu setzen. So wurden erstmals Elektronenrechner eingesetzt, um die Resultat Ermittlung zu beschleunigen, und um den Medien Unterlagen über die einzelnen Wettkämpfer/innen anzubieten. Das Olympische Dorf wurde sehr zentral gebaut, mit kurzen Distanzen zu den meisten Wettkampfstätten, die in einem grossen Olympiapark und einigen kleineren Aussenstationen zusammengefasst worden waren. Und für die Medien wurde mitten im Olympiapark eigens ein Hotel gebaut. Dabei waren die Spiele in Europa noch keine «Fernsehspiele» Es gab keine Live-Übertragungen der Wettkämpfe. Die Beiträge wurden für die Schweiz von Karl Erb und Marin Furgler in Tokyo produziert und kommentiert und dann als Filmrollen von der Swissair täglich in die Schweiz geflogen.

Die TVU-Tradition wurde aufrechterhalten
Seit 1952 hatten sich immer mehrere TVU-Leichtathleten für die Olympischen Spiele qualifiziert, und diese Tradition wurde auch 1964 fortgesetzt. Der Sprinter Max Barandun und der 1500m-Läufer Rolf Jelinek erreichten relativ problemlos die Richtwerte für die Selektion und konnten so im Oktober die Reise nach Japan antreten. Beide schieden bei den olympischen Wettkämpfen allerdings schon nach den Vorläufen aus.
Während Max Barandun leider schon 2010 im Alter von 68 Jahren an der unheilbaren ASL-Krankheit starb, erinnert sich Rolf Jelinek noch genau ans Olympia-Abenteuer und kann uns heute authentisch darüber berichten.

Rolf Jelinek – unser Mann in Tokyo

Die beiden Bilder liegen 57 Jahre auseinander, aber die Erinnerungen von Rolf Jelinek an das Olympiajahr 1964 sind auch im Jahr 2021 noch vollständig intakt, denn das Jahr hatte es für ihn wirklich in sich!

Nach einem von Walti Kammermann forcierten Comeback des lange verletzt gewesenen Rolf Jelinek im Jahr 1962, welches in den Jahren 1962 und 1963 mit zwei Schweizermeister-Titeln über 1500m erfolgreich gestaltet wurde, nagelte sich Rolf seinen grossen Traum für das Olympiajahr gleich an die Wand seines Zimmers. Es war ein grosses Bild des tschechischen Wunderläufers und mehrfachen Olympiasiegers Emil Zatopek, unter welches er die 1500m-Limitenzeit für die Olympischen Spiele in Tokyo von 3:44,0 schrieb. So hatte er sein Ziel stets vor Augen.

Damit begann die Jagd nach einer Limite, welche um über drei Sekunden unter dem damaligen Schweizerrekord lag. Und mit dabei auf dieser Rekordjagd war auch sein ewiger Rivale Hansruedi Knill vom LC Brühl St. Gallen, der damalige Schweizerrekordhalter. Am 12. Juli, beim Länderkampf gegen Belgien in Zürich setzten die beiden Läufer ein erstes Zeichen. Im Schlepptau der beiden starken Belgier liefen die Schweizer von Anfang an ein horrendes Tempo und erreichten schliesslich das Ziel zeitgleich in der neuen Rekordzeit von 3:43,5. Die strengere der beiden zu laufenden Limitenzeiten war geschafft. Knapp zwei Wochen später qualifizierte sich Rolf bei einem Meeting im österreichischen Leoben mit 3:44,6 endgültig für Tokyo. Die Vorbereitungen für den Saisonhöhepunkt im Oktober konnten beginnen. Sie verliefen allerdings alles andere als optimal. Anfang September, beim grossen SVM-Final­sieg des TVU, mit Rolf als Captain des TVU-Teams, bemerkte er, dass ihm sowohl über 800m als auch über 1500m der „Pfupf“ fehlte. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Auf Anraten des Nationaltrainers Otto Misangi machte er danach eine Woche Trainingspause und gewann am folgenden Wochenende dennoch zum dritten Mal in Serie den Schweizermeistertitel über 1500m. Eine Woche danach folgte der nächste Tiefschlag. An einem internationalen Meeting in Stockholm bekam er plötzlich Magenprobleme, nachdem er eine Flasche eiskalte Milch getrunken hatte. Auf der Heimreise ging dann gar nichts mehr, und daheim konstatierte man im Kantonsspital Zürich eine Unterzuckerung des Blutes. 30 Jahre später fand man heraus, dass das wahrscheinlich ein Symptom einer latent vorhandenen leichten Epilepsie gewesen war.
Die Voraussetzungen für die direkte Olympiavorbereitung waren also miserabel, und es kam dazu, dass er weitgehend allein trainieren musste, denn für die übrigen Läufer war die Saison mit den Schweizermeisterschaften beendet. Aber mit grossem Willen und viel Durchhaltevermögen brachte er sich für Tokyo wieder in Schwung, wobei Rolf im Rückblick feststellt, dass er damals wahrscheinlich zu viel gewollt hatte und seinen Körper überlastete, was allerdings erst in Tokyo zum Ausdruck kam.

Die Reise nach Japan verlief problemlos, und weil die Leichtathletik erst in der zweiten Hälfte des Olympiaprogramms stand, blieb auch genügend Zeit, sich zu akklimatisieren. Im Olympischen Dorf, das aus lauter kleinen Holzhütten bestand, waren die Schweizer Leichtathleten alle in einem einzigen grossen „Schlag“ untergebracht, mit je einem Bett und Kasten. Aber „Rückzug für die mentale Vorbereitung“ war eben zu jenen Zeiten noch kein grosses Thema im Sport

Für Rolf war die ganze Atmosphäre bei einer derartigen Grossveranstaltung völlig neu, und auch die Abläufe der Wettkämpfe mit dem ziemlich weit entfernten Einlaufplatz, dem Warten im Besammlungsraum und dem Einmarsch ins Stadion, alles genau vorgeschrieben, waren total ungewohnt. Deshalb gestattete der Leichtathletik-Delegationschef Armin Scheurer Rolf, zuerst auch über 800m zu starten, um die Abläufe so schon einmal mitzuerleben. Allerdings ging für Rolf das gesundheitliche Ungemach auch in Japan weiter, denn er zog sich schon früh eine Gastritis (Magenschleimhautentzündung) zu, die ihn einige Tage im Bett, respektive im Haus zurückhielt, jedenfalls in der Nähe eines WCs…
Auf die Wettkämpfe hin besserte sich dann die gesundheitliche Situation wieder, aber die körperliche Schwächung blieb natürlich weiter wirksam. Im Vorlauf des 800ers schied Rolf, ohne „Sprutz“ und Kraft in den Beinen, als Sechster aus, und das in einer für ihn lächerlichen Zeit von über 1:54. Über 1500m hatte sich Rolf auf Grund seiner bisherigen Resultate einen Platz im Halbfinal ausgerechnet, und auch nach dem Studium der Leistungen seiner Rivalen vom Vorlauf war er optimistisch. Das Rennen lief für ihn bis 800m gut, und als das Tempo verschärft wurde, konnte er mitgehen. Aber bei 1000m kam bereits der „Hammermann“, denn auch hier fehlte die für einen erfolgreichen Finish nötige Kraft, und Rolf schied als Siebter seines Vorlaufs aus, in einer Zeit, die fast 8 Sekunden über seinem Schweizerrekord lag. Die olympischen Wettkämpfe waren für ihn vorbei, bevor sie richtig angefangen hatten, und seine Enttäuschung war entsprechend gross. Gross war auch der Missmut, dass während seiner Krankheit keine richtige medizinische Betreuung möglich war, denn der Schweizer Team-Arzt hatte sich schon früh zu den Velofahrern verabschiedet, die rund 100km nördlich von Tokyo wohnten; in der Meinung, dort werde er wegen möglichen Stürzen eher gebraucht… Dabei war auch unter den übrigen Delegationsmitgliedern der eine oder die andere ebenfalls mit Magengeschichten „bettlägerig“. So musste teilweise der deutsche Team-Arzt um Hilfe gebeten werden.

Während und nach den olympischen Wettkämpfen organisierte die Schweizer Delegationsleitung einige Ausflüge, vor allem für jene Athletinnen und Athleten, welche zum Teil schon nach dem zweiten Tag ihre Einsätze beendet hatte. Die ganze Delegation reiste nach Abschluss der Spiele noch in einem Schnellzug (dem Vorgänger des „Shinkansen“) nach Kyoto, um auch von der ehemaligen Kaiser- Stadt einen Eindruck zu erhalten. Nach einem viertägigen Aufenthalt ging’s dann von dort aus zurück nach Zürich, wo höchstens die Medaillen-Gewinner bei der Ankunft in Zürich eine gewisse mediale Aufmerksamkeit genossen. Sonst aber war es sehr ruhig am Flughafen. Für die TVU-Athleten war einzig „Kami“ in Kloten zum Empfang erschienen, und auch später war im TVU von einem speziellen Empfang der „Olympioniken“ keine Rede. Im TVU-Jubiläumsjahr war eben alles andere zweitrangig – selbst Olympia machte da keine Ausnahme…

Peter Tobler

2021: Tokyo «light» im Engadin

56 Jahre nach seiner Tokyo-Reise wollte Rolf Jelinek zusammen mit seiner Frau und den vier Söhnen der Olympiastadt 2020 einen Wiedersehens-Besuch abstatten. Er begann bereits früh im Jahr 2019 mit der aufwändigen Organisation der Reise und wandte sich dazu an das auf solche Reisen spezialisierte Reisebüro «Globetrotter». Zuerst wurden die gewünschten Eintrittskarten für ausgesuchte Veranstaltungen gekauft und die Unterkunft in einem Hotel reserviert. Dann kamen Reisevorschläge für Exkursionen und die Reise mit dem Shinkansen nach Kyoto, die nach Rolfs Wünschen gebucht wurden. Schon im September 2019 war die ganze Reise gebucht und bestätigt und wurde von Rolf bezahlt. Die Vorfreude auf das Olympia-Erlebnis 2020 war gross. Umso grösser waren dann das Bedauern und der Frust über die durch Corona-Einschränkungen bedingte Verschiebung der Spiele um ein Jahr, aber das Reisebüro wickelte die gesamte Buchung kulant zurück, so dass nur ein ganz kleiner Betrag als Bearbeitungsgebühr blieb. Für das Jahr 2021 hätte man zwar die gesamte Reise neu buchen können, aber die unsichere Corona-Lage liess Rolf dann das Risiko zu gross erscheinen. Und er hatte recht, denn wenige Monate vor Beginn der Spiele verfügte ja die japanische Regierung ein Einreiseverbot für ausländische Zuschauer. Die ganze Mühe wäre damit schon zum zweiten Mal vergebens gewesen.
Damit fanden 2021 für Familie Jelinek die Olympischen Spiel nur noch am Fernsehen statt. Als kleine Entschädigung lud Rolf dafür die verhinderte Reisegruppe für ein paar Tage ins Engadin ein, wo man dann halt sozusagen «Tokyo light» feierte. Rolfs Kommentar: «Es war auch super!»

P.T.

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